Am internationalen Tag der Pflege im Mai erfuhr der Pflegeberuf im Bundestag aufgrund der Corona-Pandemie erhöhte Aufmerksamkeit. Die Neuinfektionen sanken und verlangsamten sich und alle hatten noch den Applaus der Bevölkerung für die Beschäftigten in den Krankenhäusern im Ohr. Vielen wurde in dieser Zeit klar, auf welche Jobs wir nicht verzichten können und einigen, wie wenig uns diese Jobs bisher interessiert haben.
Auch im Bundestag wurde stehend applaudiert. Erst auf Anfrage von DIE LINKE kam heraus, dass sich bis dahin bereits über 11.000 Beschäftigte, die Covid-19-Patienten versorgen, mit dem Virus angesteckt hatten, zwei Dutzend daran sogar verstorben sind. Gegen den rückläufigen Trend infizierten sich hier pro Woche mehr als 1.000 Kolleginnen und Kollegen.
Die Mär vom Fachkräftemangel
Der Schlüssel für die längst überfällige Umverteilung der Arbeitszeit liegt dabei in der Pandemie selbst. Denn kürzere Arbeitszeiten im Gesundheitswesen retten nachweislich Leben und schützen die Gesundheit von Beschäftigten und Patienten. Das Verhältnis zwischen Schichtdauer und Überlebenschancen der Patienten sowie der Ansteckungswahrscheinlichkeit der Beschäftigten wurde auch im chinesischen Wuhan deutlich. Statt weiterer Be- und Überlastung sanken ab dem Moment, als die Schichten auf sechs Stunden halbiert wurden, die Behandlungsfehler sowie Infektions- und Sterberaten deutlich.
Dafür braucht es mehr Personal. Das zu organisieren liegt in der Verantwortung der Arbeitgeber und ist nicht Aufgabe der abhängig Beschäftigten. Derzeit lechzt die Branche nach den Pflegekräften, die Jens Spahn in allen Ecken der Welt anzuwerben versucht. Anstatt die 400.000 ausgebildeten Fachkräfte hierzulande zurückzugewinnen, die ihren Beruf aufgrund mieser Arbeitsbedingungen und schlechter Entlohnung aufgegeben haben. Aktuell flüchten sich viele Pflegekräfte in Teilzeit, um den Job durchzuhalten. Den Arbeitgebern, die gern über den Fachkräftemangel jammern, sei gesagt: Schafft attraktive Bedingungen und bildet aus – inklusive tariflicher Bezahlung, kürzeren Arbeitszeiten und verbindlichen Personalschlüsseln. So gewinnt man Ehemalige zurück und sichert zukünftig Beschäftigung.
Die Mär von Maß und Mitte
DIE LINKE erhebt auch in Zeiten einer Notlage ihre Stimme für die Rechte abhängig Beschäftigter. Erst recht, wenn diese in dem Maße gefährdet sind, wie es jüngst die Kolleginnen und Kollegen in den Krankenhäusern waren. Dann muss der Staat eingreifen und den Schutzcharakter des Arbeitszeitgesetzes stärken. Schon allein aus Gründen des Arbeitsschutzes hätte dieser Wahnsinn der Ausweitung der Arbeitszeiten auf täglich bis zu 12 Stunden niemals stattfinden dürfen. Mir schwillt der Kamm, wenn die neoliberale Bagage im Bundestag klatscht. Ausgerechnet diejenigen, die beim Thema Arbeitsmarkt verlässlich „Maß und Mitte halten“ predigen (wofür man ihnen eigentlich eine klatschen müsste). Praktische Wertschätzung im Bundestag geht anders: Hier erwarten die Beschäftigten in der Pflege gesetzgeberische Maßnahmen für eine tatsächliche Aufwertung ihrer Arbeitsbedingungen. Das wäre glaubhaft und hätte Applaus verdient.
Von Jan Richter, Bundessprecher der AG Betrieb & Gewerkschaft