Haben die Konzerne im Einzelhandel die Digitalisierung verschlafen? Und ist der aktuelle Kahlschlag bei H&M das Ergebnis dieser Entwicklung? Nein, meint Jan Richter, Bundessprecher der BAG Betrieb & Gewerkschaft und argumentiert, dass es H&M seit Jahren erschreckend gut gelingt, die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten immer weiter zu prekarisieren und die aktuellen Entlassungen Teil der Digitalisierungsstrategie des Konzerns sind.
Von Jan Richter
Was derzeit bei H&M passiert ist beispielhaft für den Versuch im Textilhandel, die Kosten und Verantwortung der Corona-Krise auf die Beschäftigten abzuwälzen. H&M will Personal loswerden. Mit einem vermeintlichen Freiwilligenprogramm sollen 92.000 Vertragsstunden abbaut werden, 116 Filialen sind betroffen. Verbunden mit einer bescheidenen Abfindung sollen diejenigen gehen, die nicht so flexibel sind, wie man es in der Konzernzentrale gerne hätte: Mütter in Elternzeit oder mit kleinen Kindern im Kita- oder Grundschulalter, aber auch Schwerbehinderte, Langzeitkranke und ältere Beschäftigte. Finden sich nicht genügend Freiwillige, droht H&M in internen Mails mit betriebsbedingten Kündigungen.
Wenn es darum geht, sich möglichst öffentlichkeitswirksam asozial in Szene zu setzen, ist mein alter Arbeitgeber eine sichere Bank. Der Wunsch sich gerade von den Beschäftigten zu trennen, die besonders schützenswert sind, ist zu verurteilen. Während Kinder gerne als Werbeträger von Plakaten lächeln dürfen, sind ihre Mütter als Angestellte nicht erwünscht. Auch dem gesellschaftlichen Ziel von Inklusion und dem Recht auf Teilhabe sagt H&M mit dieser Entscheidung den Kampf an. H&M begründet die Notwendigkeit zum Personalabbau mit der Digitalisierung, dem veränderten Kundenverhalten und natürlich mit der Corona-Pandemie. Mal abgesehen davon, dass der Umbau weg von Vollzeit hin zu flexiblen Beschäftigungsverhältnissen seit Jahren läuft, versucht auch H&M unter dem Deckmantel der Pandemie, seine Rationalisierungspläne ungehemmt voranzutreiben. Ziel sind Arbeitsverträge mit wenigen garantieren Mindeststunden, flexibel rund um die Uhr einsetzbar und ohne Vorplanung – Arbeit auf Abruf.
Das Berufsbild der Verkäuferin verändert sich rasant
Nimmt man im Textilhandel die Digitalisierung als Referenzrahmen, ist zu erkennen, dass sich ein altes Geschäftsmodell dem Ende zuneigt und sich ein neues entwickelt oder längst da ist. Angefangen hat diese Entwicklung bei Amazon und Inditex. Die Rahmenbedingungen im Textilhandel haben sich die letzten Jahre verändert und damit auch die Tätigkeiten. Zuletzt war bei den großen Warenhäusern zu erkennen, wie das Berufsbild der Verkäuferin in drei Bereiche aufgeteilt wurde:
- Das Warenserviceteam: Eine Tätigkeit, die sich hervorragend ausgliedern lässt. Wir kennen die Regaleinfüller in den Drogerien oder Supermärkten, die anhand anderer Dienstkleidung für alle sichtbar vom Stammpersonal zu unterscheiden sind. Wenn es gut läuft, dann sind es Leiharbeiter. Aber hauptsächlich sind es Beschäftigte betriebsfremder Firmen, die unter ausbeuterischen Verhältnissen die Arbeit machen.
- Klassische Verkaufstätigkeit mit Beratung: Viele Fakten sprechen dafür, dass der Bedarf in Zeiten von Interrecherche drastisch zurückgegangen ist. In digitalen Anproben werden Kunden heute bereits anhand ihrer Körpermaße und Daten vergangener Einkäufe Vorschläge für Outfits gemacht.
- Die Kassiertätigkeit: Bei real und IKEA ist zu sehen, wohin die Reise geht, Selfscanner-Kassen nehmen zu. Für die Überwachung eines halben Dutzend dieser Kassen reicht eine Person. In Zeiten von apple-pay ist klar, dass auch diese Tätigkeit auf lange Sicht verschwindet.
Wenn sich das Berufsbild ändert, dann hat das Folgen für die Eingruppierung. Kasse und Beratung sind klassisch kaufmännische Bereiche, das Warenserviceteam ist gewerblich. Wenn aber die kaufmännischen Bereiche sang- und klanglos verschwinden, dann werden Händler immer mehr zu Logistikern. Das klingt hart, entspricht aber der Realität. Geschäfte werden zu überproportionalen Postdienststellen, in denen Menschen ihre zuvor online bestellte Ware lediglich abholen und vielleicht noch einen Zusatzkauf vor Ort tätigen. Das Berufsbild zerfällt, Verkäufer scannen am Ende nur noch Pakete.
Hat der Textilhandel die Digitalisierung verpennt?
In einem kapitalistischen Wirtschaftssystem sind Beschäftigte aus Sicht eines Unternehmens nur von Interesse, so lange sie nicht durch Maschinen oder Künstliche Intelligenz ersetzbar sind. Strukturbrüche sind im Kapitalismus nichts Ungewöhnliches. Ob Stahl, Kohle oder Werften: Erst kommt es zu Überproduktion, dann zu Rationalisierung, gefolgt von Flexibilisierung, Automatisierung und Produktionsverlagerung. Auch im Handel geht es darum, Personal und die damit verbundenen Kosten einzusparen und die Produktivität zu erhöhen. Unterm Strich bleibt so mehr Gewinn für den Arbeitgeber übrig. Trotzdem ist im Jahr 2021 am Beispiel H&M die Mär zu hören, Arbeitgeber hätten entscheidende Weichenstellungen bei der Digitalisierung und dem intelligenten Zusammenführen der verschiedenen Vertriebswege im verschlafen und bedrohen jetzt so die Existenzgrundlage tausenden Menschen.
Aber bedrohen H&M, ZARA & Co. deren Existenz tatsächlich erst jetzt? Die Pandemie beschleunigt eine Entwicklung, die längst eingesetzt hat. Früher fand der Wettbewerb im Textilhandel über Konkurrenz und Preise der Produkte statt. Dann ging man zum Filialkannibalismus über und setzte auf Vernichtungswettbewerb. Als nächstes stiegen Mitbewerber aus der Tarifbindung aus und setzten den Wettbewerb über die Löhne fort. Ladenöffnungszeiten wurden freigegeben und ein deregulierter Arbeitsmarkt lässt Arbeitsverhältnisse zu, die die Existenz von abhängig Beschäftigten seit fast zwei Jahrzehnten täglich bedrohen. Was also genau haben die Arbeitgeber im Textilhandel verschlafen? Die Arbeitsbedingungen ihrer Beschäftigten immer weiter zu prekarisieren? Das gelingt ihnen seit Jahren bereits erschreckend gut.
Die Digitalisierung wurde keineswegs verschlafen. Konzerne wie H&M haben sie als Rationalisierungspotential erkannt und setzen es zunehmend ein. Dahinter steckt ein unerbittlicher Preiskampf, der zu Lasten der Beschäftigten, Produzenten und Kunden geht. Gute Arbeitsbedingungen in Nähstuben und Verkaufsfilialen sowie hohe Kundenzufriedenheit sind Kostenfaktoren, die sich die Branche nicht leisten kann. Angebliche digitale Zwänge und jetzt eben Corona dienen als Rechtfertigung, Personal zu entlassen, um im Preiskampf mit anderen Konzernen zu bestehen. Schicksalhaft ist diese Entwicklung nicht. Die Branche ist konkurrenzgetrieben. Der Preiskampf die Ebene, auf der die Konkurrenz ausgefochten wird. Statt die Produktion an die gesellschaftlichen Bedarfe und die Bedürfnisse der Menschen anzupassen, wird wild in den Markt hineinproduziert. Insofern sind die aktuellen Entlassungen in der Branche dieses konkurrenzgetriebenen Systems folgerichtig. Von verschlafen kann also keine Rede sein.
Digitalen Wandel mitbestimmen – Arbeitswelt demokratisieren
Die Digitalisierung ist ein Prekarisierungstreiber. Betriebsräte stoßen dabei regelmäßig an die Grenzen der Betriebsverfassung. Die letzte bedeutende Reform des Betriebsverfassungsgesetzes gab es 1972. Damals gab es noch keine Leiharbeit, Outsourcing oder Standortverlagerungen ins Ausland. Auch das Problem von sachgrundlosen Befristungen, Minijobs oder Arbeit auf Abruf war unbekannt. Beschäftigungsformen wie Crowd- und Click-Work gab es nicht und auch keine Arbeitgeber, die sich als Plattformen getarnt sämtlicher Verantwortung entziehen. Unsere heutige Arbeitswelt ist geprägt von Digitalisierung, Globalisierung, Deregulierung und der Notwendigkeit eines ökologischen Umbaus.
Hoffnungen auf ein Betriebsrätestärkungsgesetz wurden jüngst zerschlagen, weil die SPD in gewohnt falscher Rücksichtnahme auf die CDU lieber auf Ruhe in der Regierung setzt, als auf die Stärkung von Arbeitnehmerrechten. Die Gründung von Betriebsräten und ihre Arbeitsfähigkeit zu erleichtern, ist längst überfällig. Viel zu lange schon können sich Anwaltskanzleien auf die systematische Einschüchterung von Betriebsräten spezialisieren und etablieren. Aber unsere Arbeitswelt macht auch nötig, dass der Betriebsbegriff angepasst, der Arbeitnehmerbegriff erweitert und zusätzliche Arbeitnehmervertretungsstrukturen durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung bestimmt werden können. Auch müssen erzwingbare Mitbestimmungsrechte ausgeweitet werden auf Fragen der Arbeitsorganisation, der Personalbemessung, prekärer Beschäftigung und der Qualifizierung.
Die Transformation der Arbeitswelt ist eine umfassende gesellschaftliche Umstrukturierung mit gravierenden Auswirkungen auf die Arbeitsbeziehungen. Da es einen Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit gibt, vollzieht sie sich auch nicht klassenneutral, sondern als knallharte Verteilungsauseinandersetzung. Deshalb ist die Ausweitung zwingender Mitbestimmungsrechte auf wirtschaftliche Fragen zentral. Beschäftigte und ihre Betriebsräte sollen beispielsweise die Initiative ergreifen können bei Investitionsentscheidungen, Fertigungstiefen, Aus- und Verlagerungen, Schließungen von Betrieben und Betriebsteilen, Rationalisierungsvorhaben und neuen Arbeitsmethoden und Steuerungsmechanismen. Denn nur so werden Beschäftigte bei der bevorstehenden Transformation mitgenommen, nur so wird prekäre Arbeit eingedämmt, Klima- und Umweltschutz in den Betrieben realisiert und die Digitalisierung im Sinne der Beschäftigten und auch des Allgemeinwohls vorangetrieben.
Schlussfolgerungen
Das Problem besteht darin, dass die Prekarisierungs- und Entlassungsstrategien von H&M legal sind. Politische Entscheidungen haben dafür den Boden bereitet. Im Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit haben diese Entscheidungen die Welt der Arbeit gezielt geschwächt. H&M kann sich aber auch so verhalten, weil es unserer Gesellschaft egal zu sein scheint. „Jeder ist sich selbst am nächsten oder seines Glückes Schmied“ wird uns seit zwei Jahrzehnten eingetrichtert. Dieser neoliberale Sprech wirkt tief indoktriert wie Gift für gesellschaftliches Miteinander. Das Ergebnis ist eine Empathie- und Teilnahmelosigkeit, die wir täglich erleben: Zuletzt traf es die Streikenden im öffentlichen Dienst (sollen doch froh sein, überhaupt nen Job zu haben), mal Geflüchtete (um uns kümmert sich keiner), mal Obdachlose (selbst schuld), mal Arbeitslose (auch selbst schuld) oder Millionen Menschen, die mit Niedriglöhnen ausgebeutet werden (erst recht selbst schuld, hätten die in der Schule besser aufgepasst, müssten sie diese Jobs nicht machen). Die widrigen Bedingungen, unter denen die Textilbranche in Asien produzieren lässt, sind bekannt. Die prekären Arbeitsbedingungen in den Filialen hierzulande sind es ebenfalls. Seit Jahren geht H&M systematisch gegen gewählte Betriebsräte vor. Jetzt junge Mütter und Schwerbehinderte rauszukanten, entspricht der Logik, in der H&M den Preiskampf mit seinen Konkurrenten führt.
Aktuell vollziehen sich mehrere gesellschaftliche Umbrüche gleichzeitig und sind nicht mehr nur auf eine Branche beschränkt. Ob Industrie oder Dienstleistungen, die Corona-Pandemie beschleunigt diese Prozesse. Der aktuelle Kahlschlag bei H&M macht exemplarisch das soziale Ausmaß dieses Prozesses deutlich. Gerade weil die Transformation nicht klassenneutral abläuft, müssen abhängig Beschäftigte mit ihren Betriebsräten und Gewerkschaften darin ihren Platz genauso finden, wie die Partei DIE LINKE. Von allein wird H&M seiner Verantwortung nicht nachkommen und die Zukunft des Unternehmens gemeinsam mit Beschäftigten und ihren Interessenvertretungen gestalten. Aufgabe der parlamentarischen Linken ist es, mit Offensiven zur Mitbestimmung und zur Stärkung von Arbeitnehmerrechten die Debatten im Bundestag zu forcieren, um gesetzliche Rahmenbedingungen wieder nach links zu ziehen. Unabhängig davon, dass die Tarifrunde für die Entgelte für den Einzelhandel insgesamt ansteht, fordert die Bundestarifkommission von H&M fordert zusammen mit ihrer Gewerkschaft ver.di den Arbeitgeber H&M seit letztem Sommer zu Verhandlungen über einen Digitalisierungs-Tarifvertrag auf. Darin geht es um ein Zukunftskonzept, um Beschäftigungssicherung und um gute und gesundheitsförderliche Arbeitsplätze bei H&M. Derzeit zeigt H&M seinen Beschäftigten überdeutlich, wie viel sie dem Unternehmen wert sind. Es ist an der Zeit, den Spieß umzudrehen und H&M zu zeigen, dass es ohne seine Beschäftigten keinen Pfifferling wert ist. Und es ist Aufgabe der Partei DIE LINKE, die Kolleginnen und Kollegen in ihrem Kampf zu unterstützen, vor Ort praktische Hilfe anzubieten und über die ihr zur Verfügung stehenden Kommunikationswege und Podien die öffentliche Meinung im Sinne der abhängig Beschäftigten bei H&M zu beeinflussen.
von Jan Richter, Bundessprecher der AG Betrieb & Gewerkschaft
Der Artikel ist im Original auf der Seite der Freiheitsliebe erschienen, wir spiegeln ihn auf unserer.