Die Tarifbindung in Deutschland ist im freien Fall. Das gilt für nahezu jeden Wirtschaftszweig, mit Ausnahme des Öffentlichen Dienstes. Inzwischen arbeitet die Mehrheit der Beschäftigten in Unternehmen ohne Tarifvertrag. Nur noch 47 Prozent waren 2017 in tarifgebundenen Betrieben tätig, der Anteil der Betriebe mit Tarifvertrag lag sogar bei nur 25 Prozent. Das geht aus einer Anfrage der Fraktion DIE LINKE im Bundestag hervor.

Dramatisch ist das vor allem für die Beschäftigten, denn Tarifverträge fehlen in Branchen, wo die Arbeitsbedingungen besonders schlecht, die Arbeitszeiten besonders hoch und die Entlohnung besonders niedrig sind: im Handel, im Gastgewerbe, im Dienstleistungsbereich, für Freiberufler und Wissenschaftler. Das Tarifautonomiestärkungsgesetz, für das sich die Große Koalition 2014 überschwänglich feiern ließ, hat damit nicht den gewünschten Effekt gebracht. Vielmehr hat die Zahl der Betriebe mit Tarifverträgen oder Betriebsräten nicht zu- sondern abgenommen.

Warum Tarifverträge?

Tarifverträge sind das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen Kapital und Arbeit, der lange die Arbeitsbeziehungen in der Bundesrepublik bestimmt hat. In der Regel gehen Arbeitgeber nicht freiwillig darauf ein. Vielmehr entscheidet die Organisationsmacht der Gewerkschaften, ihre Mitgliederstärke, Streikfähigkeit und Geschlossenheit, darüber, ob ein Tarifvertrag zustande kommt und was darin geregelt wird. Für die Unternehmen bietet er Planungssicherheit, weil die Gewerkschaften für die Dauer des Tarifvertrages der Friedenspflicht zustimmen. Wenn der Arbeitgeber sich an die ausgehandelte Lohnhöhe, Urlaubstage und Wochenarbeitszeit hält, verzichten die Gewerkschaften für die Dauer des Tarifvertrages auf Streiks. Den stärksten Schutz für Beschäftigte bieten Flächentarifverträge. Sie verhindern, dass die Konkurrenz zwischen den Unternehmen über die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen ausgetragen wird. Tarifverträge gelten nur für die Mitglieder einer Gewerkschaft oder eines Arbeitgeberverbandes, sofern sie nicht für allgemeinverbindlich erklärt sind. Werden sie für allgemeinverbindlich erklärt, erhöht sich die Reichweite tariflicher Regelungen und stützt das Tarifvertragssystem.

Ursachen

Pascal Meiser, der gewerkschaftspolitische Sprecher der Linksfraktion, hat die Ursachen klar benannt: „Wer über die schwindende Tarifbindung klagt, darf über die Schwächung der Gewerkschaften durch die Agenda 2010 nicht schweigen.“ Gemeint ist die abnehmende Mobilisierungsfähigkeit der Gewerkschaften in den Betrieben. Die Politik der Agenda 2010 hat die Gewerkschaften gezielt geschwächt. Profitiert haben in erster Linie Arbeitgeber, die ihr unternehmerisches Risiko nun vollständig auf die Beschäftigten abwälzen können. Gewerkschaftsarbeit war nie einfach. Doch Leiharbeit, Befristungen, Minijobs, Niedriglöhne und Hartz IV haben Bedingungen geschaffen, unter denen die Beschäftigten ihre Interessen nur noch schwer gemeinsam durchsetzen können. Die Angst vor Hartz IV ist entscheidend dafür, dass die Gewerkschaften der Tarifflucht zu wenig entgegensetzen können. Diesen Mechanismus durch ein Tarifautonomiestärkungsgesetz aufhalten zu wollen, wirkt wie Hohn. Auch Meiser verweist auf diesen Zusammenhang: „Die Zahlen belegen, dass die Tarifflucht von Unternehmen wie real,- nur die Spitze des Eisberges darstellt. Quer durch ganz Deutschland und unabhängig von der Betriebsgröße unterminieren immer mehr Arbeitgeber das bewährte Tarifvertragssystem.“ Arbeitgeber verschaffen sich durch dieses Lohndumping Wettbewerbsvorteile gegenüber denjenigen Konkurrenten, die noch nach Tarif zahlen, meint Meiser. „Dieser dramatischen Entwicklung darf die Bundesregierung nicht weiter zusehen.“

Offensive Gewerkschaftspolitik

Die Erfahrungen zeigen, gute Arbeitsbedingungen hängen nicht vom guten Willen der Arbeitgeber ab, sondern müssen ihnen im Streik abgerungen werden. Eine offensive Gewerkschaftspolitik ist also alternativlos. Nur im Konflikt können die Gewerkschaften zu alter Stärke zurückfinden. Die Aufgabe der LINKEN ist es, diesen Prozess auf den unterschiedlichsten Ebenen zu flankieren. In den Gewerkschaften und in den Parlamenten. Bei der Stärkung des Tarifsystems muss die öffentliche Hand vorangehen, indem nur tarifgebundene Unternehmen öffentliche Aufträge erhalten. So werden Tarifstandards gesichert und Tarifdumping durch den Staat verhindert. Dieser nutzt vielmehr seine Marktmacht als öffentlicher Auftraggeber, um soziale, tarifliche und ökologische Standards einzuhalten sowie regionale und lokale Wirtschaftskreisläufe zu unterstützen. Tarifflucht muss für die Arbeitgeber erschwert werden. Dies ist möglich durch eine Ausweitung der Nachwirkung von Tarifverträgen. Gelten die tariflichen Standards länger, wird nicht nur das Tarifsystem gestärkt. Für Arbeitgeber wird es dadurch deutlich unattraktiver, aus dem Arbeitgeberverband auszutreten.

von Ulrike Eifler und Jan Richter, Bundessprecher der AG Betrieb & Gewerkschaft